Beleuchten, was ausgeblendet wurde

Die Mitglieder des DBVC Präsidiums greifen in ihrem fünften Positionspapier das Thema "Erweiterte Wahrnehmung und alternative Bedeutungsgebung im Business Coaching" auf. 

DBVC Präsidium

Zum Hintergrund der Positionspapiere des DBVC Präsidiums:

Mit den Positionspapieren werden Überlegungen und Reflexionen der Präsidiumsmitglieder zu aktuellen Themen einer breiteren Fachdiskussion zugänglich gemacht. Ziel ist es, sowohl eine fachliche und gremienübergreifende Diskussion innerhalb des Verbandes als auch einen Diskurs in der interessierten Öffentlichkeit anzuregen. Vorstand und Präsidium laden ausdrücklich zur Diskussion dieses Papiers in den Regionalgruppen und anderen Gremien ein und freuen sich über Feedback an den Vorsitzenden des Präsidiums, Eberhard Hauser.

Beleuchten, was ausgeblendet wurde

Februar 2020

Als Coach zu arbeiten, empfinden viele als ein großes Privileg. Uns wird Vertrauen entgegengebracht, ernste Themen werden reflektiert und unausgesprochenes wird plötzlich besprechbar. Diesen Prozess dürfen wir so lange begleiten, wie Klienten darin Sinnhaftigkeit erkennen. Unsere beraterische Tätigkeit findet dabei im Modus von Kommunikation statt. Darunter ist hier nicht die alltagssprachliche Verständigungsarbeit zu verstehen, sondern kommunikative Kompetenz mit verschärfter Wahrnehmung und der intensivierten Aufnahme schwacher Signale. Durch das Ansprechen dieser Wahrnehmungen können wir unseren Klienten zusätzliche Sichtweisen und Perspektiven eröffnen, weitere gedankliche Verknüpfungen schaffen und damit die Handlungsoptionen des Klientensystems erhöhen. Kommunikative Kompetenz bedeutet aber auch, in besonderer Weise darauf zu achten, was nicht angesprochen oder wahrgenommen wird. Je nach Kultur und Kontext können ganz unterschiedliche Dinge ausgeblendet werden, wie Emotionen (z.B. Resignation) oder Körpersignale (z.B. Schlafstörungen), Marktsignale (z.B. Beschwerden), Signale aus Kooperationen (z.B. zunehmende Kontrollbedürfnisse) oder Lieferketten (z.B. Hinweise auf Fehlbelastungen). Die (Wieder)-Einführung ausgeblendeter Wahrnehmungsdimensionen können für unsere Klienten erhellend und hilfreich sein. Voraussetzung für derartige Wahrnehmungen durch Coaches ist es jedoch, dass diese über ein gedankliches Ordnungssystem verfügen, über geeignete „mentale Landkarten“, auf die sie ihre Wahrnehmung ausrichten können. Je nach Orientierung der Coaches können verschiedene Orientierungspunkte auf solchen mentalen Landkarten auftauchen und damit persönliche Bezugsrahmen für Coaches bilden. Weitere Beispiele hierfür:

  • das Verhältnis von Sachorientierung und Beziehungsorientierung
  • das Verhältnis von Selbstwahrnehmung (innen) und Kontextwahrnehmung (außen)
  • Wahrnehmung und Relevanz von implizitem Wissen (Intuition)
  • Orientierung an Werten/Ethik
  • Existenz eines kollektiven Selbst („Wir-Gefühl“, Gemeinschaft)
  • Fragen von Ressourcen-Verbrauch und Verschiebung von Belastungen
  • Fragen der Positionierung und Verantwortungsklärungen von Beteiligten

Im Prozess werden Coaches also ihre Aufmerksamkeit sowohl auf das Anliegen und das Offenkundige richten als auch auf Nichtbeachtetes, Hintergründiges, das evtl. ausgeblendet wird. Anschließend gilt es abzuwägen, ob eine Beachtung des Ausgeblendeten für das System hilfreich sein könnte und wie ggf. eine geeignete Intervention zu gestalten wäre.

"Im Prozess werden Coaches also ihre Aufmerksamkeit sowohl auf das Anliegen und das Offenkundige richten als auch auf Nichtbeachtetes, Hintergründiges, das evtl. ausgeblendet wird." 

In einem weiteren Schritt wäre dann zu beobachten, welche Resonanz das Thematisieren ergänzender Perspektiven und Zusammenhänge im System erzeugt. Als Coaches können wir hier immer nur ein Angebot zur Einbeziehung von Nicht beachtetem machen; das System (sei es eine Einzelperson, ein Team oder eine Organisation) wird autonom entscheiden, ob diese Punkte durch die Intervention des Coachs bedeutsam werden oder weiterhin unbeachtet bleiben sollen. 

Generell gilt: je enger der Bewegungsraum eines Systems, desto größer die Gefahr problematischer Entscheidungen und Entwicklungen. Das Angebot von Coaches, unbeachtetes besprechbar zu machen, zielt also auf eine Vitalisierung des Systems und eine Erhöhung der Optionen.

Wenn z.B. Emotionen und körperliche Befindlichkeiten der Mitglieder einer Organisation dauerhaft ausgeblendet werden oder statt vertrauensvoller Abstimmung Formalitäten immer mehr Raum einnehmen, dann wird der Alternativenraum dieser Organisation kleiner. Coaches können helfen, entsprechende Wahrnehmungen ins Bewusstsein zu bringen. Aber sie können nicht entscheiden, ob diese Wahrnehmungen für das System relevant werden. Die Frage, ob Entscheidungen besser werden, wenn man über Gefühle spricht, oder ob ein Diskurs über Werte oder Macht zu einer besseren Zusammenarbeit führt, kann nur zur Klärung vorgeschlagen werden. Es bleibt also immer wichtig, dass die Beratungsperson ihre eigenen „Wahrheiten“ einer kritischen (Selbst-) Beobachtung unterzieht.

Häufig jedoch wird die (Wieder-) Einführung von Ausgeblendetem (nach anfänglicher Irritation) als hilfreich und relevant erlebt. Um hier nicht stehenzubleiben (und damit lediglich einen kurzzeitigen Effekt zu erzielen) kann es zur Verstetigung notwendig sein, sich damit zu beschäftigen, wie es dazu kam, dass Bedeutsames ausgeklammert wurde. Was war der Gewinn in der Vergangenheit und was geht hierdurch aktuell verloren? Was ist die Funktion des „blinden Flecks“?

Ausgeblendetes zum richtigen Zeitpunkt, in der richtigen Form und in einer passenden Weise besprechbar zu machen, ist damit durchaus eine Form wirkungsvoller Intervention. Nimmt man ernst, dass Individuen und soziale Systeme ihre eigenen Wirklichkeiten gestalten und für Konsequenzen verantwortlich sind, schwindet die Vorstellung, andere mit eigenen Gewissheiten bestimmend beeinflussen zu können. Was uns bleibt ist der Versuch, eigene Positionen überzeugend und kompetent zu vertreten. Solches Vorgehen kann als relativiertes Expertentum d.h. als eine bewusste Zurücknahme beschrieben werden. Der klassische Habitus, getragen von expertenhafter Gewissheit wandelt sich beim Umgang mit Ausgeblendetem in eine Expertise des Fragens und des Ausprobierens von Zusammenhängen. Damit können Coaches vielfältige und nachhaltige Entwicklungen anstoßen. Wir können also durchaus auch unsere persönliche Meinung kundtun - aber wir sollten nicht der Versuchung unterliegen, unsere persönlichen Sichtweisen zu gültigen Wahrheiten zu erklären.

Das Thema der gesellschaftlichen Verantwortung in unserem Berufsfeld stand im Fachdiskurs lange tendenziell unter Ideologieverdacht und wurde daher gern ausgeblendet. Es ist an der Zeit, zumindest den Reflexionsrahmen zu erweitern.

Verfasser des Positionspapiers "Beleuchten, was ausgeblendet wurde":

Eberhard Hauser (Präsidiumsvorsitzender), Matthias Blenke, Klaus Eidenschink (bis Februar 2019), Mechtild Erpenbeck (ab Oktober 2019), Stefanie Heizmann, Dr. Wolfgang Looss , Dr. Jasmin Messerschmidt, Almut Probst, Dr. Bernd Schmid (Ehrenmitglied), Prof. Dr. Walter Schwertl

Veröffentlichung:

Februar 2020

Entwicklung der Positionspapiere des DBVC Präsidiums:

Im Mai 2017 veröffentlichte das DBVC Präsidium das erste Positionspapier. Alle bisher erschienen Positionspapiere des DBVC Präsidiums können Sie unter folgenden Links herunterladen:

  • Positionspapier 01: "Organisationsbezüge im Coaching" (Mai 2017)
  • Positionspapier 02: "New Work und Agilität"  (April 2018)
  • Positionspapier 03: "Akademisierung von Coaching-Weiterbildungen" (März 2019)
  • Positionspapier 04: "Beleuchten, was ausgeblendet wurde" (Februar 2020)
  • Positionspapier 05: "Gesellschaftliche Verantwortung im Berufsfeld Coaching" (November 2020)
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